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Panikattacken und Reisen

Lesedauer // reading time 6 Min.

Ich wusste, dass ich das irgendwann schreiben würde. Vielleicht dachte ich, ich hätte länger Zeit, bevor ich die Notwendigkeit sehe. Oder auch nicht? 

Am Anfang der Reise war ich mit einer Bekannten von einer früheren Reise in Kontakt, die dasselbe hat. Wir sprachen darüber, wie es so ist, in dieser Situation unterwegs zu sein, was uns triggert, usw. Ist das Tapferkeit oder Wahnsinn, zu reisen, obwohl man durch die psychische Gesundheit gewissermaßen eingeschränkt ist? Ich meine, es ist irgendwo zwischen den beiden – aber es ist gut, sein Ding trotzdem durchzuziehen. Davon bin ich überzeugt.

Hab ich noch immer Panikattacken? Jap. Wie geh ich damit um? Hm, das ist eine komplexere Antwort. 

Lass mich das Ganze von vorn aufrollen. Hier ist, was ich bisher weiß: 

Was löst meine Panikattacken aus? 

Stress – könnte allein der Gedanke sein, wie doof es wäre, wenn mir hier im Bus jetzt schlecht werden würde, oder zu viel Zeit in einer Großstadt… das alles ist Stress für mich. 

Klima – Als ich hier an der Karibikküste ankam und mich die Wand aus feuchter Hitze traf, würfelte es mich ein gutes Stück zurück. Dieses Wetter löst eine Menge derselben Symptome aus, die sonst auch meine Panikattacken auslösen. Zittern, leicht erhöhter Puls, Müdigkeit, ein fiebriges Gefühl, Kopfschmerzen und manchmal auch Probleme zu essen und/oder Bauchschmerzen. Dasselbe gilt für die Höhe. Als ich in Bogotá ankam, das auf 2650 m liegt, war ich auch zittrig, schlapp, und hatte etwas Kopfweh. 

Falsche Entscheidungen – wenn ich etwas tue, obwohl ich weiß, dass es nicht richtig ist, beispielsweise zu lang wo bleiben, mit jemandem Essen gehen, der nicht wirklich auf derselben Wellenlänge ist, oder zu lang mit einem der Straßenhändler sprechen, die mir ein ungutes Gefühl geben. 

Zu viel – Ich fand schnell heraus, dass ich sehr viel Ruhe brauche. Was natürlich Sinn macht, diese Reise soll ja eine gute Weile dauern. Es kommt einfach ein Punkt, wo man all diese neuen Erfahrungen und Eindrücke und Menschen nicht mehr verarbeiten kann. Umso mehr an einem Ort los ist, umso mehr Ruhe brauche ich. Das inkludiert übrigens positive wie auch negative Eindrücke, ich kann also kippen, weil ich zu viel Spaß mit neuen Freunden hatte oder weil ich zu oft auf der Straße angequatscht und angemacht wurde. 

Schlaf – Ich schlafe in Gemeinschaftszimmer. Es ist immer laut. Es gibt immer die eine Person, die schnarcht. Es ist nicht meine eigene Matratze, nicht mein eigenes Kissen. Ich schlafe neben meiner Tasche mit Wertsachen, einer Wasserflasche und, je nach Situation, noch mehr Zeugs. Ich weiß nicht, auf welcher Seite der Lichtschalter ist und wenn ich mich endlich erinnere, ist es Zeit, umzuziehen. 

Krankheit – das ist ein großer Punkt für mich. Ich wusste schnell, dass Krankheiten oder auch nur daran zu denken große Auslöser sind, die meine Gedankenspirale starten. Hier esse ich jeden Tag komisches Zeug, trinke Wasser aus fragwürdigen Ressoursen, berühre allerhand Ekliges und ich krieg Mückenstiche, die, da wo ich bin, Krankheiten übertragen. 

Also, wie geh ich damit um? Ich hab ein paar Methoden gefunden, die gut zu funktionieren scheinen. 

1 Mich aus der Situation rausnehmen. Was nicht immer möglich oder leicht ist, aber wenn ich merke, dass es brodelt, dann versuche ich, den Ort zu verlassen. Bestenfalls lege ich mich für eine Zeit lang in mein Bett, mit meinen Noise Cancelling Kopfhörern, und konzentriere mich auf meine Atmung. 

2 Augen zu und durch. Noch anstrengender als eine Panikattacke ist es, gegen eine anzukämpfen. Ich versuche also, das Gefühl zu akzeptieren und anzunehmen, und mich daran zu erinnern, dass es irrational ist und bald vorbei sein wird. Ich lächle und fokussiere mich auch tiefe, lange Atemzüge, und warte einfach, bis es vorbei ist. 

3 Vorausdenken. Ich versuche, immer wieder die Signale zu deuten, und mich entsprechend zu verhalten. Kann ich weitermachen? Etwas Neues anfangen? Besser zurückgehen und hinlegen? Reicht eine Kaffeepause? Sollte ich mit jemandem sprechen? 

4 Notfallkit. Ich hab immer immer immer meine Notfallmedizin dabei, eine Papiertüte für den Fall, dass ich hyperventiliere, Wasser, Kaugummi, ein starkes ätherisches Öl (daran zu schnuppern holt mich für einen Moment aus der Gedankenspirale), und Traubenzucker falls mein Blutzuckerspiegel niedrig ist. Ich brauch davon selten etwas, aber einfach zu wissen, dass ich es habe, sollte ich es brauchen, hilft schon enorm. 

5 Offen sein. Wenn etwas passiert und ich unter Leuten bin, dann sage ich einfach grad heraus, was los ist. Hey, sorry, ich hab (bald) eine Panikattacke, ich brauch kurz einen Moment bitte. Bisher war noch jede einzelne Person total verständnisvoll und wollte auch immer helfen. Menschen sind nett, vergiss das nicht. Freunde, Familienmitglieder oder einen Therapeuten anzurufen, kann auch eine gute Idee sein. 

6 Ablenkung. Manchmal lasse ich meine Gedanken zu lange kreisen und bekomme Symptome ohne richtigen Grund. Ich hab dafür ein paar Spiele auf dem Handy, die ich nur in solchen Situationen spiele. Ein leichtes Sudoku zum Beispiel oder eines von den komischen süchtig-machenden Sortierspielen. Wenn das grad nicht geht, dann zähle ich im Kopf alle Städte auf, die mir einfallen, die mit A beginnen, dann mit B, C, und so weiter. Das tut mir gut, weil ich so ein Geo-Nerd bin. Ich hab auch von Leuten gehört, die einfache Kopfrechnungen machen oder Pflanzen oder Tiere anstatt Städten nach dem Alphabet auflisten oder etwas für jeden Sinn in der Umgebung finden. 

7 Aussetzungstherapie. Ist das ein Wort? Ich kann nicht für immer in meiner winzigen Komfortzonen-Blase stecken bleiben. Anfangs war es schon genug, dass ich hier bin, in Südamerika, wo alles neu ist. Aber jetzt will ich Dinge erleben. Jeden Tag gehe ich ein kleines Stück weiter. Nicht jeder Tag ist gleich, wie der davor, das ist auch wichtig zu verstehen. Manchmal ist ein kleiner Spaziergang schon genug, an anderen Tagen fühl ich mich so viel besser, dass ich weitaus mehr soziale Kapazitäten habe und vielleicht sogar ein Bier oder zwei mit den anderen Reisenden trinke. 

8 Akzeptanz. Was auch immer es ist, ich akzeptiere es so, wie es ist. Wenn ich etwas nicht machen kann, dann mach ich es nicht. Wenn ich gehen muss, gehe ich. Es ist schwer, aber wichtig. Ich habe vor, eine gute Weile lang hier zu sein, und kein Abenteuer, keine Unterhaltung ist es je wert, dass ich dorthin zurückfalle, wo ich begonnen hab. Wenn es heute nicht passt, dann vielleicht morgen. Und wenn nicht, dann steckt wohl ein Grund dahinter und das passt auch so, wie es ist. 

Woher weiß ich, in welcher Situation ich bin und was ich dagegen tun kann? Meistens weiß ich das nicht. Ich versuch, das Ganze rational zu sehen, und überlege, was mich hierher geführt hat. Dann versuche ich einfach einmal eine der Methoden, und wenn die nicht funktioniert, die nächste, und die nächste… bis sich etwas richtig anfühlt. 

Das Wichtigste: Denk immer dran, dass Gedanken nur Gedanken sind – auch, wenn sie mit sehr realen körperlichen Nebenwirkungen kommen. So, wie sich die Situation beruhigt, werden auch die körperlichen Symptome weggehen. Und: Kämpfe nicht dagegen an. Ich weiß, das ist leichter gesagt, als getan, und es braucht Übung, die man absolut nicht haben will. Aber es ist eine der Kernlektionen, die mir nicht nur im Umgang mit den Panikattacken helfen, sondern auch mit anderen starken Gefühlen, sei das Traurigkeit, Enttäuschung, Zorn oder Stress. Ich versuche, mich mit der Emotion hinzusetzen, sie zu akzeptieren und dann weiterzumachen. 

Vermutlich hast du bis hierher gelesen, weil du zumindest eine Idee hast, wovon ich spreche. Wenn das so ist, dann sollst du noch ein paar mehr Dinge wissen. 

Ich weiß, wie schwer es ist. Körperlich und mental zehrend. Wie viel Angst du hast und wie viel Leben du glaubst, zu verlieren. 

Ich weiß, wie schwer es ist, die Symptome und Schmerzen zu deuten. So viele Faktoren spielen da mit rein, und nachdem wir über eine psychische Erkrankung sprechen, ist es oft schwierig zu wissen, ob die Gefühle und körperlichen Symptome nun echt sind oder nur im Kopf. Aber, mit einer oder mehreren der Methoden, die ich für mich herausgearbeitet hab, kann ich es meistens ganz gut verstehen. Und wenn das nächste Mal eine ähnliche Situation kommt, ist es gleich leichter zu deuten und damit auch leichter, damit umzugehen. 

Ich bin an einem Punkt, mit den oben genannten Methoden, wo ich ganz gut mit meiner Situation klarkomme. Ich sage nicht, dass es einfach ist, aber es funktioniert. Und es funktioniert gut genug, dass ich mich, mein Leben, und meine Reise genießen kann. Ich sag dir das aus einem einzigen Grund: Weil ich weiß, dass du es auch kannst. 

Es dauert, so wie alles Gute. Und glaub‘s oder glaub‘s nicht, aber deine Situation könnte auch etwas Gutes sein. Für mich ist es das bestimmt. Wenn das nicht so passiert wäre, hätte ich die Entscheidungen nicht getroffen und würde jetzt nicht als die Person, die ich bin, hier stehen. Ich würde immer noch jede Kleinigkeit über mein eigenes Wohlbefinden stellen und mich damit selber immer weiter kaputt machen. Was auch bedeutet, dass, wenn mich jemand braucht, ich nicht wirklich für die Person da sein kann. Ich hab so viel gelernt, über mich selber und wie ich mit mir selber umgehen muss. Diese Lektionen sind mehr Wert als ihr Gewicht in Gold. 

Wenn du kannst, versuch doch in einem guten Moment an die schöne Seite zu denken. Erinnere dich, was du schon gelernt hast, über deine Gedanken, Körper, Seele. Wie viele schöne Gespräche du hattest weil du dich gegenüber deinen Liebsten geöffnet hast. Wie schön das Leben war, bevor du dich mit dem Ganzen Sch* herumschlagen musstest, und dann auch wie schön es sein wird, wenn du das nicht mehr musst und nur mehr das Gelernte davon übrig ist. 

Ich bin noch in Arbeit. Das werd ich immer sein. Du auch – Ich weiß, du kannst das. Schreib mir gern, wenn du mehr persönliche Erfahrungen willst oder über deine eigene Situation sprechen willst. 

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