Feb, 2024
Die eine Unternehmung, die ich in diesem Land unbedingt machen wollte. Wovon ich wusste, dass es eine Herausforderung werden würde, aber dass es auch absolut einmalig und besonders werden würde: das Tongariro Alpine crossing. Fast 20 km, knappe 850 Höhenmeter und bis auf ca. 2000 m Seehöhe durch unterschiedliche Vegetation, entlang eines aktiven Vulkans. Wie sich herausstellte, ist das auch die eine Unternehmung auf dieser Reise, die ich wohl nie vergessen werde. Noch in 100 Jahren werde ich mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Lucie und ich freuten uns von Anfang an darauf. Sie war die Strecke auf ihrer ersten Reise nach Neuseeland schon gewandert, und erzählte mir, wie anstrengend es war, und unglaublich schön die Aussicht war, es hatte sich gelohnt. Wenn wir gewusst hätten, was passieren würde, wären wir wohl nicht gegangen.
Wir kamen spät am Vorabend zur Unterkunft und mussten früh wieder auf. Die Erlebnisse der vergangenen zwei Wochen machten sich bemerkbar. Ich fühlte mich schwach, kränklich, hatte Kopfschmerzen. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, aber ich wollte es versuchen und redete mir ein, dass Umdrehen keine Schande wäre, solange ich es versucht hätte.
Der Shuttlebus holte uns um 7 Uhr morgens. Der Fahrer erklärte uns auf dem Weg zum Startpunkt alles, was wir über die Wanderung wissen mussten, in typisch neuseeländischem Humor. „Es ist kein gefährlicher Berg. Seid euch eurer eigenen Fähigkeiten bewusst, und alles wird gut sein“, meinte er. „Die Wettervorhersage schaut toll aus. Wenn ihr den Krater erreicht, wird es sonnig sein, 8-10 Grad, und Windstärke 20-40 km/h, also gerade eine leichte, angenehme Brise“. Lucie und ich schauten uns an, motiviert und aufgeregt über die nahezu perfekten Wetterkonditionen. Im Bus war ein Paar mit Baby in der Trage, ein paar ältere Menschen, manche die wohl sehr häufig wanderten und andere in Jeans und Turnschuhen.
Am Startpunkt fühlte ich mich besser, aber bei Weitem nicht gut. Wir gingen sehr langsam, und das Gehen schien mir gut zu tun. Wie es immer ist, draußen in der Natur zu sei , ist die beste Medizin. Der erste Teil war flach und einfach. Sobald der Aufstieg begann, rollten die ersten Wolken über uns und es begann, zu nieseln. Lucie hielt an, um ihre Regenjacke drüberzuziehen. Ich sagte, ich würde weitergehen, weil ich ohnehin so langsam unterwegs war. Wie auch bei allen Wanderungen zuvor, wir würden uns schon wieder treffen. Hier aber nicht. Keiner von uns ahnte, dass wir uns lange Zeit nicht mehr sehen würden.
Als ich weiter hochstieg, änderte sich die Umgebung, es wurde immer felsiger. Aber immerhin nicht allzu anspruchsvoll. Meinem Bauch ging es besser, aber noch immer nicht gut. Ich ging sehr langsam und wartete immer wieder auf Lucie, aber der Nebel wurde immer dichter und ich konnte sie nicht sehen. Der Regen nahm zu, so auch der Wind, und mir war beim Stehen und Warten einfach zu kalt, also ging ich langsam weiter. Viele Wanderer drehten um, viele, die sehr professionell aussahen. Ich war auf einem flachen Stück, der Nebel war so dicht, dass ich keine Menschenseele sehen konnte. Ich grinste vor mich hin und genoss das Abenteuer.
Als ich um die nächste Ecke bog, stand ich plötzlich am Grat, der um den Vulkankrater verlief. Der Wind wurde immer stärker, der Nebel dichter. Der Weg war relativ breit, aber es ging wohl auf beiden Seiten sehr weit und sehr steil runter. Meine Finger fühlten sich an wie Eis. Ich musste weitergehen und einen windgeschützten Platz zum Warten finden.
Am Grat bemerkte ich, dass die Leute Schwierigkeiten hatten. Manche schienen ängstlich zu sein. Ich war nur ein bisschen traurig, dass ich die Aussicht auf den Krater verpasste und stattdessen in das endlose Weiß des Nebels blickte.
Bald würde sich auch das ändern. Der Wind wurde noch stärker und böenartig. Was auch Sinn macht, wenn man bedenkt, dass Neuseeland ein kleines Land inmitten des Meeres ist. Ich befand mich auf gut 2000 m Seehöhe, weit und breit waren keine anderen Berge. Ich war dem Windund Wetter schlichtweg ausgesetzt. Nun machte ich mir doch Sorgen, war mir unsicher, ob das Ganze nicht doch ein bisschen gefährlich wird. Was ist denn bloß mit der Wetterprognose passiert?
Ich ging weiter dem Grat entlang. Als ich mich umdrehte, sah ich niemanden. Was mir vor Kurzem noch solche Freude bereitete, machte mich nun wirklich nervös. Eine Böe riss mir den Bodenunter den Füßen weg. Ich war auf allen Vieren, konnte noch immer keine andere Person sehen. Ich war im Überlebensmodus. Vielleicht sollte ich meiner Familie sagen, wie sehr ich sie liebe. Das Whatsapp wird schon senden, wenn sie meinen Körper finden und mich zurück in die Zivilisation bringen. Ich sah einen Wegweiser, vielleicht 5 m vor mir. Dort kroch ich hin und klammerte mich daran wie ein Affe an einen Baumstamm. Weit und breit waren keine anderen Wanderer zu sehen. Ich wusste nicht, was passiert ist, was passieren würde, und machte mir Sorgen um Lucie. Natürlich war Handyempfang dort ein Fremdwort.
Und dann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich sah auf, und ein junger Mann lächelte mich an. „Alles gut?“, fragte er. Ich sagte, ich hätte wohl ein bisschen Todesangst. Er half mir hoch, hängte seinen Arm bei mir ein, drückte mir den zweiten Wanderstock in die freie Hand und sagte grinsend, dass es doch nur ein bisschen Wind sei, wir würden das schon schaffen. Schließlich hatte ich jemanden, der nach mir sehen würde, ich war nicht mehr allein. Ich hoffte nur, dass auch Lucie jemanden gefunden hätte.
Wir kämpften uns den Weg weiter hoch. Der Typ scherzte durchgehend und lenkte mich von meinen wenig hilfreichen Gedanken ab. „Wow, tolle Aussicht!“, meinte er, während er den Blick über den dichten Nebel in alle Richtungen schweifen ließ. Dauernd hörten wir Helikopter. Waren die alle auf Rettungsmissionen? Das Geräusch beruhigte mich auch nicht unbedingt.
Schließlich erreichten wir den Teil, vor dem uns der Fahrer gewarnt hatte, wo wir langsam und vorsichtig sein sollten. Wir waren wieder umgeben von Leuten, und viele setzten sich hin und rutschten den steilen, sandigen Hang am Hintern runter. Wir waren noch immer auf einem Grat, und der Wind brachte uns immer wieder aus dem Gleichgewicht. Der Himmel riss auf, und machte mich nur noch ängstlicher, weil ich zum ersten Mal sehen konnte, wie steil und weit hinunter es auf beiden Seiten des schmalen Grates es ging. Meine Füße rutschten im losen Sand, und der Wind war nur ein weiteres Hindernis. Ich hatte Angst, zu stürzen, den Krater runter in den giftigen See zu rutschenund lebend gekocht zu werden wie Nudeln.
Wir schafften es nach unten. Stellten uns vor, machten weiter Witze, während ich immer nervöser wurde beim Warten auf meine Freundin. Immer noch kein Empfang. Der Typ wartete mit mir, fokussiert, wann sich wohl endlich eine rote Regenjacke aus dem Nebel manifestieren würde. Und plötzlich war sie da. Ich lachte wie ein Kind und winkte mit beiden Armen. So auch der Typ. Selbst über die Distanz sah ich die Verwirrung in Lucies Gesicht, ich sollte doch allein sein. Sie sah um sich, und als niemand zurück winkte, begann sie, in unsere Richtung zu kommen. Wir lachten, erleichtert, dass wir uns wieder gefunden haben – alle lebendig. Auch sie fand jemanden, der sie im schlimmsten Abschnitt begleitete. Wir teilten uns ein paar Oreos, lachten weiter, und beobachteten die anderen Wanderer auf dem Weg den sandigen Grat herunter.
Als wir dann auf den Bus warteten, realisierten wir erst richtig, was geschehen war. Es war gefährlich da oben am Berg. Wir hörten andere Menschen sprechen, dass auch sie richtig Angst hatten. Zwei junge Männer begannen im Bus hinter uns ein Gespräch und sagten trotz Testosteronsteuerung, dass beide zwischendurch Angst um ihr Leben hatten.
Bei der Unterkunft fragte ich den Rezeptionisten, ob er sehen konnte, wie stark der Wind tatsächlich war. Vor 2 Stunden waren es wohl 70 km/h, aber das war lange, nachdem wir am Krater waren, und der Wind ließ dann schnell nach. Aktuelle Daten konnte er nicht sehen. „Ich habe windige Tage auf diesem Berg gesehen, und glaub mir, heute war keiner davon.“
Lucie und ich lachten mittlerweile nur mehr über das Geschehene. Ich fand es irrsinnig lustig, wie ich mich an den Wegweiser klammerte, und spielte das Bild immer wieder im Kopf ab, wie mich dieser Typ gefunden hatte.
Eine Sache habe ich mit Sicherheit daraus gelernt: Superhelden tragen keine Umhänge. Sie tragen knallgrüne Regenjacken und Traillaufschuhe.